Der helle
Funke
Barbara Englert
Es war einmal ein junger Buchbinder, der zwar geschickt in seinem Handwerk war, sich aber nach manch langem Tag zwischen Papier und Pergament ein wenig unerfüllt fühlte. Sein Beruf war nicht schlecht und die Bezahlung ebenso wenig, doch juckte es ihm zuweilen in den Fingern, die Werkstatt in seiner verschlafenen Heimatstadt zu verlassen, sei es nur für einen Tag. So kam es, dass zwei Geister auf den gelangweilten Burschen aufmerksam wurden.
Als er eines Abends nach vollendeter Arbeit auf die Gasse vor der Werkstatt hinaustrat, stieß er prompt mit zwei Gestalten zusammen. „Verzeihung“, wollte der Buchbinder murmeln, doch das Wort blieb ihm im Halse stecken. Die Erscheinungen standen Hand in Hand vor ihm. Die eine golden strahlend mit einer leuchtenden Flöte. Die andere kaum hüfthoch, ein dunkelvioletter Schatten, der sich halb hinter seinem Begleiter versteckte. „Du armer Buchbinder!“, rief der goldene Geist. „Fängst die Geschichten anderer ein, anstatt sie selbst zu leben! Hegst sie, anstatt sie selbst zu erzählen!“ „Wer bist du?“, stammelte der Junge. „Die Kreativität. Lass dir helfen!“ Bevor der Bursche widersprechen oder nach dem Namen des dunklen Schattens fragen konnte, fand er sich plötzlich auf einer belebten Straße wieder. „Schöne Reise“, maulte er. „Wir sind noch in derselben Stadt. Die kenne ich!“ Die Kreativität lächelte wissend. „Sicher?“ Natürlich. In der Bäckerei nebenan holte er immer Brötchen. Und dort vorn mündete die Straße in den Rummelplatz, wo er an den geschmückten Buden gern seine übrigen Groschen loswurde, Straßenkünstlern applaudierte, den lustigen Melodien des Karussells lauschte, dem Lachen der Kinder… der Buchbinder blinzelte. Ein unbekannter Glanz hatte sich über die Straße gelegt. Es war noch immer die gleiche Stadt und doch hatte sich seine Wahrnehmung verändert. Der Blick des Jungen schweifte über die schimmernde Straße – und blieb schließlich an einem goldenen Funken hängen. Ein Stern leuchtete dort über dem Rummelplatz. Die Kreativität lachte auf. „Na los, schnapp dir den Funken der Inspiration!“ Ein fremdes Verlangen übermannte den Jungen. Ob er wollte oder nicht – er musste das Licht erreichen. Er rannte los. Menschen, Häuser und die bunten Lichter der Kirmes verschwammen um ihn herum zu einem Strudel, an dessen Ende der Funken strahlte. Plötzlich tauchte der dunkle Begleiter der Kreativität vor ihm auf, das Gesicht zu einer grinsenden Fratze verzogen. „Der Preis muss stimmen.“ Auf einmal war der Jahrmarkt verschwunden. Stattdessen befand sich der Buchbinder im regen Treiben eines Festes. Teure Kleider wirbelten zu einer wilden Tonfolge um ihn herum. Die Gäste tranken, in ihren Augen leuchteten Rausch und Tollheit. Doch der Junge war mit seinem eigenen Begehren beschäftigt. Er sah nur den goldenen Funken, der auf der Hand des Schattens prangte. Der Geist war gewachsen und nun auf Augenhöhe mit der Kreativität, die er noch immer umklammert hielt. „Komm und zahl den Preis“, lockte der Geist. Erneut packte eine ungestüme Sehnsucht den Jungen. Blutrote Tropfen schwappten über die Kelche der Gäste, als sich der Junge durch die johlenden Massen drängte. „Komm und zahl den Preis. Komm…“ Nur noch wenige Meter. Er streckte die Hand nach dem Funken aus – und der Schatten wich zurück. Die Sicht des Jungen verschwamm. Da waren nur noch er, das Licht und der Schatten. Das Verlangen zerriss ihn bald. „Was willst du?“, fragte er. „Wer bist du?“ Der Geist grinste kalt. „Ich bin der Wahnsinn. Zahle mit deinem Verstand und die Inspiration ist dein!“ Der Wahnsinn begann, an seinen Sinnen zu zerren. Von plötzlicher Entschlossenheit erfasst, sprang der Junge vor und riss dem Schatten den Funken aus der Hand. Da hüllte ihn ein heller Schein ein. Als er wieder erwachte, fiel Morgenlicht in seine verlassene Werkstatt. Erfüllt von einem hellen Gefühl, vergaß er die bedruckten Seiten und nahm Tintenfass und Feder zur Hand. Und wenn er nicht gestorben ist, dann schreibt er noch heute seine Geschichten nieder.